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"Nicht immer ist mehr Europa die Antwort"

WWU-Politologen diskutieren vor der Europawahl über Wählermobilisierung und die Bedeutung der EU
Beschäftigen sich in aktuellen Projekten mit der EU und der Europawahl: Prof. Dr. Andrea Szukala, Fachdidaktikerin für Sozialwissenschaften am Institut für Soziologie, und Prof. Dr. Oliver Treib, Experte für Vergleichende Policy-Forschung und Methoden empirischer Sozialforschung am Institut für Politikwissenschaften. © WWU - Peter Leßmann

Mehr als 500 Millionen Bürger aus 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) haben vom 23. bis 26. Mai die Möglichkeit, ihre Vertreter für die kommenden fünf Jahre im Europäischen Parlament zu wählen. Jana Schiller sprach mit Prof. Dr. Andrea Szukala und Prof. Dr. Oliver Treib über die Besonderheiten der diesjährigen Europawahl.

Warum ist die Europawahl in diesem Jahr so wichtig?

Oliver Treib: Das Europäische Parlament ist stärker und unabhängiger als die meisten nationalen Parlamente, sodass die Europawahl immer eine sehr wichtige Wahl ist. Dieses Jahr sieht es durch den Brexit möglicherweise so aus, als wäre die Wahl das Endspiel um Europa, aber ich sehe das nicht ganz so dramatisch. Aktuell haben wir die Sondersituation, dass Großbritannien an der Wahl teilnehmen muss, die dort eine Schlammschlacht werden wird. Für den Rest Europas kommt es darauf an, den Brexit so gut es geht auszublenden und auf die sachpolitische Ebene zurückzukommen.

Andrea Szukala: Für mich steht nicht nur das Durcheinander um den Brexit im Fokus der diesjährigen Europawahl, sondern die demokratischen Dysfunktionen in der alltäglichen Politik, die die Bürger aktuell wahrnehmen, wenn sie auf die EU schauen. Das Europäische Parlament ist zwar sehr einflussreich, aber auch sehr intransparent. Die Abstimmungsprozesse beispielsweise zum Upload-Filter haben mit demokratischer Politik wenig zu tun. Gerade für junge Menschen sind diese Entscheidungen schwer nachzuvollziehen.

Bei der vergangenen Europawahl gaben nur 35 Prozent der 21- bis 24-Jährigen ihre Stimme ab. Wie kann man Jugendlichen und jungen Wählern das Thema EU heutzutage überhaupt noch vermitteln?

Szukala: Es gibt verschiedene Motive, wählen zu gehen. Ein zentraler Punkt ist die sogenannte Wahlnorm. Die Schule erfüllt dabei eine extrem wichtige Funktion. Lehrer können Schülern vermitteln, dass europäische Staatsbürgerschaft etwas Gutes ist. Das wiederum hat Netzwerkeffekte: Schüler erinnern ihre Eltern daran, dass Wahlen stattfinden. Für die Bundeszentrale für politische Bildung haben wir das mehrsprachige Projekt „Europawahl 2019“ entwickelt. Wir stellen Lehrern europaweit online Materialien bereit, die ihnen den unterrichtlichen Umgang mit dem Thema erleichtern. Die EU zählt aufgrund ihrer Komplexität leider zu den unbeliebteren Themenfeldern im Unterricht.

Wie wirkt sich das Wissen von Wählern über die EU auf die Wahlentscheidung aus?

Szukala: Es ist bei einer Wahl wichtig zu wissen, wo die Parteien stehen, denn Wähler müssen sich für eine politische Partei entscheiden. Das ist auf europäischer Ebene ein Problem, weil wir bis vor kurzem nicht wussten, welche Parteien in den anderen Ländern antreten, wie sie positioniert sind, und in welcher Form sie in Fraktionen zusammenarbeiten werden.

Treib: Dazu kommt ein weiterer Aspekt: Bei der Europawahl bleiben viele Leute zu Hause, weil sie nicht verstehen, was sie wählen. Bei den Bundestagswahlen kann ein Wähler relativ uninformiert entscheiden, ob er beispielsweise die Regierungspolitik unterstützt, weil er bisher zufrieden war, oder alternativ eine Oppositionspartei wählt. Auf europäischer Ebene gibt es in dem Sinne keine Regierung. Um halbwegs sinnvoll abstimmen zu können, muss man wenigstens verstanden haben, dass das Europäische Parlament wichtig ist und dass man indirekt für bestimmte Sachfragen eine Stimme abgibt.

Welche Sachfragen sind das?

Treib: Zum Beispiel wird alles, was mit Umweltschutz zu tun hat, stark von der EU beeinflusst. Die deutsche Umweltpolitik ist zwar relativ fortschrittlich, aber gerade bei Emissionen von Autos oder Elektromobilität hinken wir durch den starken Einfluss der deutschen Autoindustrie weit hinterher. Wenn die EU nicht gewesen wäre, hätten wir nicht so strikte Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide.

In einem Ableger des Forschungsprojektes „Reconnect“ zum Vertrauensverlust und Demokratiedefizit der EU untersuchen Sie, Herr Treib, und Ihr Kollege Prof. Dr. Bernd Schlipphak Reformvorstellungen der Bevölkerung für die EU. Wie könnten sich Einstellungen gegenüber der EU auf das Wahlergebnis auswirken?

Treib: Die persönlichen EU-Positionen haben durchaus einen Einfluss auf die Wahlentscheidung. So gehen wir beispielsweise davon aus, dass Bürger, die sich durch Einwanderung bedroht fühlen, in Deutschland eher Parteien wie die AfD wählen werden. Die Unzufriedenen am linken und rechten Rand wählen tendenziell gegen die EU.

Ist diese Unzufriedenheit berechtigt?

Treib: Es gibt durchaus viele nachvollziehbare kritische Positionen gegenüber der EU. Zum Beispiel könnte man einige Probleme besser lösen, wenn sich die EU mit bestimmten wirtschaftspolitischen Interventionen zurückhält, damit wir auf der nationalen Ebene sozialstaatliche Regelungen beibehalten können. Nicht immer ist mehr Europa die Antwort. Es ist wichtig, sich mit antieuropäischen Bewegungen auseinanderzusetzen, um besser zu verstehen, warum in Deutschland und in anderen europäischen Ländern Konflikte entstehen.

Provokant gefragt: Wäre nicht eine Wahlpflicht eine Lösung, um dem Euro-Skeptizismus entgegenzuwirken?

Treib: Es gibt in der Wissenschaft durchaus eine ernsthaft geführte Diskussion, dass eine Wahlpflicht angesichts der sinkenden Wahlbeteiligung in allen Ländern eine Überlegung wert ist. Eine Demokratie, in der keiner wählen geht, ist ein großes Problem. Ich glaube aber nicht, dass eine Wahlpflicht die politischen Ränder schwächt, sondern sie im Gegenteil sogar stärkt. Von den Bundestagswahlen wissen wir beispielsweise, dass Personen, die nicht zur Wahl gegangen sind, überproportional euroskeptisch und populistisch sind.

... also lieber keine Wahlpflicht?

Treib: Ich finde die Idee schon bedenkenswert. Eventuell könnte man die Menschen aber auch anders dazu bringen, sich wieder stärker an Wahlen zu beteiligen. Ein Reformvorschlag einer Expertenkommission des Europarats ist, die Wahlteilnahme mit einer Lotterie zu verbinden. Man könnte beispielsweise gewinnen, dass man über einen gewissen Anteil des EU-Haushalts bestimmen darf.

Szukala: Dem stimme ich zu. Für die nächsten Integrationsschritte fände ich eine Kombination aus Europawahl und einem europäischen Referendum interessant. Die EU ist aktuell in ihrer Weiterentwicklung blockiert. Es wäre dann gut, die Wahlen mit der Frage zu verbinden, welche Zukunftsvorstellung die Bürger von der EU haben. Wenn beispielsweise das Projekt „Reconnect“ der Kollegen zu dem Ergebnis kommt, dass es drei, vier denkbare Reformvorstellungen gibt, könnte man diese zur Wahl stellen und die Europäer gemeinsam über ihre Zukunft entscheiden lassen.

Ihr Votum zum Wahlergebnis: Wie wird sich das Parlament verändern?

Treib: Der Anteil an linken und rechten Euroskeptikern könnte von derzeit 28 auf 30 bis 35 Prozent anwachsen. Ich gehe aber nicht davon aus, dass es plötzlich eine Mehrheit im Europäischen Parlament gibt, die die EU abschaffen will. Radikaler Euro-Skeptizismus ist nach wie vor kein Mehrheitsprojekt.

Szukala: Ich finde es bedenklich, dass es immer mehr Parteien gibt, die sehr integrationskritisch sind, aber ihre Position mit einer Liebe zu Europa begründen. Diese paradoxe Argumentation könnte bei uninformierten Wählern das Gefühl hervorrufen, dass man Europa etwas Gutes tut, indem man gegen die EU votiert. Wenn das funktioniert, gibt es womöglich höhere Wahlausgänge für antieuropäische Parteien.

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung „wissen|leben“ Nr. 3, 8. Mai 2019.

 

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