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"Es braucht solidarische Lösungen bei der Aufnahme der Geretteten"

Rechtwissenschaftlerin Nora Markard beschäftigt sich in einer Veröffentlichung mit der Seenotrettung in der EU
In einer aktuellen Veröffentlichung hat sich Prof. Dr. Nora Markard mit der Seenotrettung, sicheren Orten und dem Verhalten der EU beschäftigt.

In einer aktuellen Veröffentlichung hat sich Prof. Dr. Nora Markard, Professorin für Internationales Öffentliches Recht und Internationalen Menschenrechtsschutz an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU), mit der Seenotrettung, sicheren Orten und dem Verhalten der Europäischen Union (EU) beschäftigt. Im Gespräch mit Kathrin Nolte erläutert die Rechtswissenschaftlerin die rechtliche Situation, die aktuelle Praxis in der EU und was sich zukünftig ändern muss.

 

 

Zu welchen Ergebnissen kommen Sie in Ihrer Veröffentlichung, die Sie gemeinsam mit Prof. Dr. Anuscheh Farahat von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg erstellt haben?

Die EU und ihre Mitgliedstaaten versuchen zunehmend, ihre Verantwortung für geflüchtete Menschen an nordafrikanische Staaten auszulagern. Diese sollen die Menschen gar nicht erst in Boote steigen lassen und sie im Zweifel zurückholen oder zurücknehmen. Am deutlichsten wird das beim EU-Türkei-Deal. Vor allem Italien kooperiert eng mit Libyen – obwohl aufgegriffenen Bootsflüchtlingen dort willkürliche Haft unter entsetzlichen Bedingungen, schwere Misshandlungen, rechtswidrige Abschiebungen oder gar Folter und Tod drohen. Das ist alles gut dokumentiert, von großen Nichtregierungsorganisationen ebenso wie von den Vereinten Nationen. Wir haben in diesem Kontext untersucht, ob es rechtmäßig ist, aus Seenot gerettete Personen in den nordafrikanischen Staaten auszuschiffen. Unser Ergebnis: in Libyen auf keinen Fall – in Algerien, Marokko, Tunesien und Ägypten kommt es drauf an.

Wie ist die rechtliche Situation bei Seenotrettungen?

Wer Menschen in Seenot antrifft oder zur Hilfe gerufen wird, hat die Pflicht, diese Menschen zu retten. Damit ist die Pflicht aber nicht zu Ende: Die Geretteten müssen dann an einen „sicheren Ort“ gebracht werden. Staatliche Kräfte sind außerdem an die Menschenrechte und das Flüchtlingsrecht gebunden, auch wenn sie auf See operieren – das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schon 2011 klargestellt. Das Gleiche muss gelten, wenn sie durch ihre Rettungszentren verbindliche Anweisungen an private Kapitäne geben.

Prof. Dr. Nora Markard<address>© Steffen Weigelt</address>

Prof. Dr. Nora Markard

© Steffen Weigelt

Was versteht man unter „sichere Orte“? Warum zählt beispielsweise Libyen nicht dazu?

Ein „sicherer Ort“ ist nach der Definition der International Maritime Organisation zunächst ein Ort, an dem keine Lebensgefahr mehr besteht und von dem eine sichere Weiterreise möglich ist. Es muss dort zudem möglich sein, sich grundlegend zu versorgen – eine Felsen-Insel reicht da nicht. Und es dürfen keine sonstigen Gefahren für Leib und Leben bestehen. Das bedeutet, dass die Überlebenden nicht in einem Land ausgeschifft werden dürfen, wo ihnen Mord, Folter oder Verfolgung drohen – oder von wo aus sie in ein Land abgeschoben werden, wo dass der Fall ist. Die Situation in Libyen ist für Migrantinnen und Migranten so entsetzlich, dass kein Zweifel daran besteht, dass Libyen kein „sicherer Ort“ im Sinne der Seerechts ist.

In den anderen nordafrikanischen Mittelmeeranrainern ist die Situation natürlich anders. Allerdings gibt es auch da immer wieder Berichte von Folter und illegalen Abschiebungen. Homosexuelle müssen teils sogar Verfolgung fürchten. Auch Frauen und Mädchen sind oft von schwerster Gewalt betroffen. Hier verbietet sich also die Ausschiffung daher für bestimmte schutzbedürftige Personen. Aber eine Einzelfallprüfung auf See ist kaum möglich – zumal der Schiffskapitän hierfür nicht ausgebildet ist und es in der Regel keine Übersetzer an Bord gibt. Ganz abgesehen davon, dass Traumatisierte oft nicht sofort befragt werden können. Daher kommen wir zum Ergebnis, dass auch in diesen Ländern von einer Ausschiffung abgesehen werden muss.

Wie sieht die Seenotrettung aktuell in der Praxis aus?

Die staatliche Seenotrettung ist leider ungenügend, doch private Seenotretter werden systematisch behindert und kriminalisiert, ihre Schiffe beschlagnahmt und die Einfahrt in Häfen verweigert. Staatliche Grenzschutzpolizei darf nicht selbst an Orten ausschiffen, wo den Überlebenden Folter oder schwerste Misshandlungen oder illegale Abschiebungen drohen. Daher versuchen die EU-Staaten, das Anderen aufzubürden.

Das italienische Seenot-Rettungszentrum ruft zum Beispiel oft die libysche Küstenwache, statt selbst zu retten – obwohl die Beamten wissen, was den Überlebenden in Libyen bevorsteht. Die Libyer versuchen dann sogar, laufende private Seenotrettungen zu verhindern, wobei sie zusätzliche Lebensgefahr erzeugen. Und die Italiener weisen private Rettungsakteure unter Strafandrohung an, Gerettete in Libyen auszuschiffen. Diese Praxis ist eindeutig illegal.

Was muss die EU aus Ihrer Sicht ändern?

Es braucht verlässliche Seenotrettung. Das schreibt auch das internationale Seerecht vor. Aus Sicht der EU ist das Sache der Mitgliedstaaten; die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache „Frontex“ rettet deswegen nur am Rande von Grenzschutz-Operationen. Die Mitgliedstaaten müssen hier also deutlich aktiver werden. Italien hat von 2013 bis 2014 mit „Mare Nostrum“ ein Beispiel gesetzt.

Vor allem aber muss sichergestellt werden, dass Gerettete an sicheren Orten ausgeschifft werden. Libyen scheidet auf jeden Fall aus, die anderen nordafrikanischen Staaten aufgrund der Gefahren für schutzbedürftige Personen auch. Eine Ausschiffung in EU-Staaten scheitert aber bisher am Widerstand der Mitgliedstaaten. Daher braucht es solidarische Lösungen bei der Aufnahme der Geretteten. Wer schutzbedürftig ist, muss menschenwürdig untergebracht werden und ein faires Asylverfahren durchlaufen können. Diese Verantwortung darf aber nicht allein an EU-Mittelmeerstaaten hängen bleiben. Der neuen Europäischen Kommission stehen hier große Aufgaben bevor.

Die Veröffentlichung wurde von der Heinrich-Böll-Stiftung European Union beauftragt.

 

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